Otto Lilienthal gilt als einer der Wegbereiter der Luftfahrt. Dieses Jahr ist es 126 Jahre her, dass im Frühjahr 1891 der in Anklam geborene Maschinenbau-Ingenieur seine ersten praktischen Flugversuche durchführte. Lilienthal nutzte dazu von ihm selbst konstruierte Gleiter, mit denen er von Abhängen oder später einem eigens aufgeschütteten Hügel startete. Aus heutiger Sicht wären das Ultraleicht-Flugzeuge oder Hängegleiter.
Um Lilienthals Leistungen und das 2016 stattfindende historische Jubiläum von 125 Jahren Menschenflug zu würdigen, einigten sich das Deutsche Zentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR) und das Lilienthal-Museum in Anklam auf ein einzigartiges Projekt. Experten beider Einrichtungen bauten Lilienthals Normalsegelapparat so originalgetreu wie möglich nach. Dieses Fluggerät ist nicht nur das erste in Serie hergestellte Flugzeug überhaupt – von ihm baute ab 1894 Lilienthal in seiner Maschinenfabrik zehn Stück. „Acht Käufer sind namentlich bekannt“, sagt Dr. rer. nat Bernd Lukasch, der Leiter des Lilienthal-Museums in Anklam. Leider ist es auch die Konstruktion, mit der Otto Lilienthal am 9. August 1895 abstürzte. Er starb am folgenden Tag in der Berliner Universitätsklinik an seinen Verletzungen.
Kooperation zwischen Lilienthal-Museum und DLR
Am Nachbau konnten die Forscher nun erstmals die Flugeigenschaften des Normalsegelapparats vermessen. Der Nachbau war zwischen Herbst 2015 und Frühjahr 2016 vom Lilienthal-Museum in Anklam durchgeführt worden. Anfang Mai war er fertig, und am 12. Mai begannen die Windkanaltests im Deutsch-Niederländischen Windkanal im holländischen Emmeloord. Der Windkanal ist einer der größten und modernsten der Welt; zudem bietet er ausreichend Platz für den Gleiter und eine Versuchsperson, die den Piloten darstellt.
Außerdem kamen sie den Ursachen für Lilienthals tödlichen Absturz näher. Bisher hatten viele Experten angenommen, Otto Lilienthal habe einen instabilen Gleiter gebaut, also ein Fluggerät, dass nur durch ständiges Nachsteuern in der Luft bleibt. Bei einer überraschenden Böe hatte er dann aber die Kontrolle verloren.
In den bisherigen Tests hat sich jedoch herausgestellt, daß der Normalsegelapparat sehr wohl eigenstabil ist. Wenn man ihn in eine stabile Fluglage bringt, behält er diese bei. Auch die weitaus meisten Flugzeuge sind eigenstabil. Eine Ausnahme bilden hier moderne Kampfflugzeuge, die instabil ausgelegt werden, um möglichst manövrierfähig zu sein. Bei ihnen sorgt die Computersteuerung durch kontinuierliches Nachsteuern für Stabilität.
Zum Vergleich: Der „Flyer“ der Gebrüder Wright war nicht eigenstabil. Er flog nur, weil der Pilot kontinuierlich gegen die Tendenz des Flugzeugs arbeitete, auszubrechen.
Video Versuche mit dem Nachbau im Göttinger Windkanal des DLR
Tatsächlich stellte sich der Lilienthal-Gleiter als durchaus robuste Konstruktion heraus. „Der Gleiter hat Windgeschwindigkeiten bis 36 Kilometern pro Stunde standgehalten und Datensätze geliefert, die Lehrbuchcharakter haben“, sagte Prof. Andreas Dillmann, Leiter des DLR-Instituts für Aerodynamik und Strömungstechnik, der für das DLR die Versuche betreut hatte. „Die Flugeigenschaften gleichen denen eines typischen Schul-Segelflugzeuges der 20er und 30er Jahre – Konstruktionen, die Jahrzehnte nach Otto Lilienthal flogen“, so Dillmann weiter. In der Gleitleistung entspricht der Segelapparat heutigen Gleitschirmen.
Weitere Untersuchungen in Göttingen sollen klären, welche Einfluss die Manövrierfähigkeit des Gleiters auf den tödlichen Absturz des Flugpioniers gehabt haben könnte. So ließe sich ermitteln, wie sich der Gleiter bei Böen und Aufwinden verhält und in welchem Flugzustand der Auftrieb abreißt. Denn unter solchen Umständen war Otto Lilienthal seinerzeit abgestürzt. Er war in eine Böe geraten und hatte dabei stark an Geschwindigkeit verloren. Augenzeuge Paul Beylich, ein Freund und Mitarbeiter, hat beschrieben, wie der Apparat langsamer wurde: „Otto Lilienthal ruderte dann mit den Beinen, um schneller zu werden und kippte über eine Fläche ab“, so Dr. Bernd Lukasch.
Der Nachbau weicht in Details vom Original ab, erfüllt aber im Gegensatz zu anderen Rekonstruktionen alle Vorgaben für wissenschaftlich exakte Versuche. Das Original bestand aus Weidenholz, Stahldraht, und einem englischen Leinenstoff, aus dem Oberhemden genäht werden. Allerdings kann man Weidenholz mit den nötigen Eigenschaften nur im Frühjahr schlagen. Da der Nachbau im Winter entstand, wichen die Erbauer auf Abachi aus. Abachi entspricht hinsichtlich Biegsamkeit und Gewicht dem Weidenholz. Der Stoff wurde extra für dieses Projekt hergestellt. Die Spannschlösser für den Stahldraht sind gängige Industrieprodukte von heute.
Lilienthals Verdienste
Otto Lilienthal begann seine Flugversuche in Derwitz. Auf die folgten viele weitere, erst in den Rauhen Bergen im heutigen Berliner Stadtteil Steglitz, dann in den Rhinower Bergen und vom künstlichen „Fliegeberg“ in Berlin-Lichterfelde. Er verhalf dem Prinzip „Schwerer als Luft“ zum Durchbruch.
Zudem legte Otto Lilienthal mit seinen experimentellen Arbeiten und seinen Flugversuchen die Grundlagen für die moderne Aerodynamik. Auf diesen Arbeiten beruht die bis heute gültige aerodynamische Beschreibung der Tragfläche. Die Gebrüder Wright entwickelten seine Erkenntnisse für ihre eigenen Flugversuche weiter. 1889 veröffentlichte er sein Buch „Der Vogelflug als Grundlage der Fliegekunst“. Es fand damals nur wenig Beachtung, weil man damals die Zukunft eher in der Luftfahrt mit Ballons und Luftschiffen sah.
Durch seine Aufsehen erregenden Flüge änderte sich das jedoch. Zudem baute er als erster ein Flugzeug in Serie – den so genannten Normalsegelapparat, von dem er acht Exemplare verkaufte. Insgesamt entwickelte Otto Lilienthal mindestens 21 Fluggeräte.
Bildnachweis: © DLR